Keine Alternative zu Europa

Text: Michaela Peterstorfer

FOTO: © 123RF -edwardkarczmarski, FOTO von Dr. Christoph Leitl: ©Kucera

Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag Ende März brachte der langjährige Präsident der österreichischen Wirtschaftskammer Dr. Christoph Leitl sein neuestes Buch heraus: „EUROPA UND ICH, eine politische und persönliche Zeitreise“. Redakteurin Michaela Peterstorfer hat mit dem erklärten Europäer und profunden Wirtschaftskenner gesprochen. 

EUROPA UND ICH.
Eine politische und persönliche Zeitreise.
Verlag ecoWing, ca. 220 Seiten, ist ab 21. März im Buchhandel erhältlich.

Herr Dr. Leitl, im Vorwort Ihres Buches schreiben Sie, Europa sei Ihnen in die Wiege gelegt worden. Gab es denn 1949 schon Strömungen einer geeinten Union?

Ja, diese Strömungen gab es bereits nach dem Ersten Weltkrieg, dann während des fürchterlichen Zweiten Weltkrieges und erst recht ab dem Jahr 1945. Die Sehnsucht nach europäischer Einheit ist nicht vom Himmel gefallen, sondern aus den fürchterlichen Erfahrungen der beiden Weltkriege entstanden, aber auch aus der Einsicht, dass nur ein Miteinander die europäische Kultur und Zivilisation samt ihren Werthaltungen zukunftsfähig machen kann.

Wie stehen Sie zur Neutralität in Österreich? 

Aus meiner Sicht gibt es eine rechtliche Neutralität, das heißt kein Beitritt zu militärischen Bündnissen und keine militärischen Stützpunkte anderer Länder in Österreich. Es gibt aber auch die Neutralität im Sinne eines Dialog-Vermittlers. Großartige Begegnungen wie Kennedy/Chruschtschow oder Nixon/Breschnew haben Österreich als bedeutenden internationalen Begegnungsort unterstrichen und dazu auch noch beigetragen, dass wir einen dritten UNO-Sitz in Wien erhalten haben.

Sie meinen, Österreich sollte vermehrt seine Vermittlerrolle wahrnehmen?  

Ja, ich sehe eine Notwendigkeit, diese Position weiter auszuüben und den Dialog zu fördern im Sinne einer aktiven, engagierten Neutralität. Wir können keine Friedensvorschläge für Kriegsparteien machen, aber wir können sie einladen, an einem Tisch in Österreich Platz zu nehmen um selbst Friedenslösungen dauerhafter Natur zu erarbeiten.

Der Krieg an den Grenzen zu Europa hat die Stimmung verändert, dabei scheint vergessen, dass die Europäische Union einst als „Friedensprojekt“ begann. Hat sich das Bewusstsein dafür gewandelt? 

Europa hat den Friedensnobelpreis erhalten und es sind jetzt bereits drei Generationen, die bis 2022 auf einem friedlichen Kontinent gelebt haben. Aber vielleicht ist uns gerade wegen dieser langen Dauer die Bedeutung des Friedensprojekts etwas abhandengekommen? Heute wissen wir: Es ist notwendiger denn je! 

Wie erklären Sie KritikerInnen, warum es keine Alternative geben kann? 

Kritischen Menschen sage ich: Wie wollt ihr die internationalen Flüchtlingsströme ohne Europa lösen? Wie die Klimakrise? Wie das internationale Finanzspekulationswesen? Nur ein einiges Europa hat die Kraft, die Akzeptanz und die Fähigkeit, auf globaler Ebene mitzuwirken und dabei auch europäische Werte einzubringen.

Die EU-BürgerInnen haben das Gefühl, bei den drängendsten Fragen – wie die der Migration – einen Stillstand zu erleben, während Gurkenkrümmungsverordnungen schnell auf dem Tisch liegen. Reglementieren wir uns zu Tode? 

Das Gefühl vieler EU-BürgerInnen trügt nicht, tatsächlich gibt es einige Bereiche, z.B. auch die Migration, wo wir mit den unterschiedlichen nationalen Eigeninteressen nicht zur notwendigen Einstimmigkeit gelangen. Daher liegt die Versuchung nahe, sich auf Nebenschauplätze zu begeben. Ja, die Gefahr besteht, dass wir uns zu Tode reglementieren! Dieser Gefahr müssen wir beherzt und engagiert entgegentreten! 

FOTO: ©Kucera

„Nur ein einiges Europa hat die Kraft, auf globaler Ebene mitzuwirken.“

Dr. Christoph Leitl

Sie sind nach wie vor ein glühender Europäer?  

Ja, aber ein kritischer. Ich weiß, was Europa im Zuge seiner Einigung geleistet hat, ich weiß aber auch, welche dringenden Notwendigkeiten es gibt, um auch in der Zukunft erfolgreich bestehen zu können in einer sich dramatisch verändernden Welt. 

Ihr letztes Buch aus dem Jahr 2020 titelte: China am Ziel, Europa am Ende? Ist China schon am Ziel?

Derzeit werden die Chinesen auch von einigen Problemen eingeholt, aber sie haben eine klare Strategie, die sie mit Zähigkeit und Fleiß verfolgen. Europa ist dem gegenüber oft selbstzufrieden, saturiert und andere Teile der Welt belehrend. Damit werden wir auf die Dauer keinen Erfolg haben. Europa hat noch alle Chancen, aber es muss jetzt das Richtige tun, um die notwendigen Weichen zu stellen. Ich setze dabei vor allem auf die Jugend Europas! 

Welche Schritte sollten gesetzt werden? 

Wir müssen kreativ und innovativ, technologieoffen sein und mit anderen Kontinenten kooperativ agieren. Die Stärkung des europäischen Binnenmarktes in den Bereichen Energie, Künstliche Intelligenz (KI) und Kapitalmarkt ist dabei ein entscheidender Faktor. 

Wenn Ihr Buch ÖSTERREICH FÜR OPTIMISTEN umgetitelt wird auf EUROPA FÜR OPTIMISTEN, was wären die ersten drei Kapitel? Anders gesagt, was wären die Leitlinien von Leitl für das Europa der nächsten Jahre?

Europa für Optimisten – ein guter Vorschlag! Die ersten drei Kapitel: „Wiedergewinnung von Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Union durch Abschaffung der Einstimmigkeitserfordernisse“, weiters „Setzen auf ein talent-orientiertes Bildungs- und Qualifikationssystem, das die Begabungen der Menschen im Vordergrund sieht und nicht einen abstrakten Lehrstoff“, und schließlich drittens „den Binnenmarkt raschestmöglich zu vollenden“.

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