Aus der Tonne, auf den Tisch

Text: Karin Schobesberger

© Privat

In Österreich fallen laut Rechnungshof jährlich fast 800.000 Tonnen „vermeidbarer Lebensmittelabfälle“ an. Vermeidbar heißt: Die Nahrungsmittel sind zum Zeitpunkt der Entsorgung noch genießbar. Auf den Einzelhandel fallen davon 120.000 Tonnen jährlich. Ein verstörender Blick in die Müllcontainer der Supermärkte des Landes.

Emil K. (27)* ist tagsüber in einem gut bezahlten Job in der IT-Branche tätig. Wenn es dunkel wird über Wien, hat er eine Mission: Er macht sich, meist mit anderen Gleichgesinnten und ausgestattet mit Stirnlampe, Handschuhen und Rucksack, auf den Weg, um zu retten, was noch zu retten ist – jede Menge weggeworfenes Obst, Gemüse, Brot und Backwaren. Das Ziel der nächtlichen Ausflüge sind die Müllcontainer der großen Handelsketten. Emil K. ist ein sogenannter „Dumpsterer“ – ein Mülltaucher.

Rechtliche Grauzone

  „Wenn die Müllräume nicht versperrt sind, haben wir immer Glück! Ganze Wocheneinkäufe können wir dort originalverpackt mitnehmen – in den meisten Wochen muss ich überhaupt nicht mehr einkaufen gehen, sondern kann ausschließlich und sehr gut aus der Tonne leben“, erzählt uns Emil K.  Allerdings seien unversperrte Müllräume keineswegs die Regel, sondern eher die Ausnahme. Warum?  Die Rechtslage ist nicht eindeutig. Müll gilt einerseits als eine „herrenlose Sache“ die man nicht stehlen kann, andererseits gehört der Müll in den Tonnen noch dem Supermarkt. Was dann aus dem Dumpstern einen Diebstahl macht  – und der Mithilfe an einer Straftat möchte sich niemand aus den Geschäften schuldig machen. 

Statement statt Straftat

„Manche Filialleiter verzweifeln selbst an der Menge an originalverpackten Lebensmitteln, die sie täglich entsorgen müssen“, berichtet Emil, und so finden die Dumpsterer ab und zu auch eigens gut sichtbar hingestellte Tonnen mit originalverpackten Backwaren oder bis zum Rand befüllte Einkaufswagen voller Obst, Gemüse und Milchprodukte vor, von denen sie sich unbehelligt bedienen können. Alles Müll – eigentlich. Doch warum nimmt man die Unbequemlichkeiten und die „rechtliche Grauzone“ auf sich, um Essen aus Mülltonnen zu holen? „Die meisten Mülltaucher dumpstern nicht primär wegen des Geldes. Es ist die Tatsache, dass hier tadelloses und genießbares Essen einfach für wertlos erklärt wird, die sprachlos macht. Dumpstern ist ein Statement gegen die immense Lebensmittelverschwendung im Handel“, meint der Wiener. 

Permanente Verfügbarkeit hat ihren Preis

Warum landen die Nahrungsmittel überhaupt im Müll? Die Pandemie hat gezeigt, dass ein paar leergeräumte Nudelregale bei den KonsumentInnen ziemliche Irritationen auslösen können. Wir sind es schlichtweg nicht gewöhnt, nicht permanent die Auswahl aus nahezu Allem zu haben. Es wird vorausgesetzt, dass die Backbox auch eine halbe Stunde vor Ladenschluss noch fast alle Brotsorten führt und im Sommer die Kühlvitrinen mit den Großpackungen an Grillfleisch geradezu überquellen.  Was davon nach Ladenschluss übrigbleibt, wird im besten Fall von einer Sozialeinrichtung oder sogar von MitarbeiterInnen von Zoos und Tierheimen abgeholt, weit häufiger jedoch landet es kurzerhand im Müll, während die Vitrinen mit frischerem Nachschub bestückt werden.

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Problem Großpackungen

Dabei wird das knapp bemessene Mindesthaltbarkeitsdatum häufig als Ablaufdatum missinterpretiert. Generell sind verpackte Lebensmittel und Großpackungen problematisch.  „Ist in einem Fünf-Kilo-Plastiksack Äpfel auch nur einer etwas angefault, wird der ganze Sack mit tadellosem Obst entsorgt. Besser wäre es, gerade Obst und Gemüse unverpackt anzubieten – dann würde man nur nehmen, soviel man braucht!“, regt Emil an.

Ist es unser eigenes Konsumverhalten, das die Müllberge jährlich größer werden lässt? Mitunter auch, aber nicht nur!  Produktions- und Handelsbetriebe müssen ebenfalls umdenken – es bedarf einer nachhaltigen Produktion der tatsächlich benötigten und verbrauchbaren Lebensmittel und einer besseren Bemessung des wirklichen Bedarfs – Stichwort Großpackungen – , um die Berge von Lebensmitteln im Müll zu verkleinern und letztendlich den größten Wunsch von Dumpsterer Emil in Erfüllung gehen zu lassen: Dass er und seine Gefährten irgendwann nichts Essbares mehr finden in den Containern hinter den Supermärkten. ν

*Name von der  Redaktion geändert

Wertschätzung für gute Lebensmittel  

Die Initiative „Too Good To Go“ setzt an, bevor die Lebensmittel in den Müll wandern. Teilnehmende Betriebe bieten etwa gegen kleines Geld „Überraschungssackerl“ an, die enthalten, was ansonsten entsorgt werden müsste. Organisiert und koordiniert wird das Angebot per Handy-App. 

Ein Konzept zur Lebensmittelwertschätzung ist www.foodsharing.at. Sogenannte „Fairteiler“ bieten  in  eigens aufgestellten Kühlschränken an öffentlich zugänglichen Orten (z.B. Lokalen) überschüssige gerettete Lebensmittel an. Jede /r kann eigene Überstände hineingeben oder entnehmen, was gebraucht wird. Die Community ist über die Webseite und Whatsapp-Gruppen gut vernetzt und ist kostenlos für jedermann/frau nutzbar!

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